Wissen ist Macht – wer kennt diesen Spruch nicht. Aber was ist mit Nichtwissen? Wissen, Erkenntnis und Weisheit sind Begriffe, die als erstrebenswert gelten. Wir leben in einer sogenannten „Wissensgesellschaft“, wie kann in dieser Nichtwissen relevant sein?

Pränatale Diagnostik ist heute selbstverständlich: Bereits in den ersten Wochen kann die Frauenärztin feststellen, ob mein Kind behindert sein wird. Aber möchte ich das wirklich wissen? Oft werden Frauen in einem solchen Fall sogar noch dazu ermutigt, abzutreiben. Vielleicht wäre es für alle Beteiligten besser, sie wüßten es nicht?

In Bewerbungsverfahren sind es oftmals nicht die Kompetenzen und Fähigkeiten, die die Wahl der passenden Mitarbeiterin beeinflussen, sondern ein vermeintlicher ausländischer Name oder gar das Geschlecht einer Arbeitssuchenden. Demnach ist auch in der Berufswelt eine bewußte Ignoranz erforderlich, um solche Vorurteile zu überwinden.

Ein weiteres positives Beispiel: Wir leben mittlerweile im „digitalen Zeitalter“, nie war es einfacher, Daten zu erheben. Einige Menschen zeichnen jeden ihrer Schritte, jede Mahlzeit, jedes Vorkommnis auf. Egal ob Supermarkt, Fitness-App oder Facebook, überall werden in einem Umfang Daten erhoben, die präzise Aussagen über die Person ermöglichen. Entsprechende Forscher können Personen sogar besser einschätzen als es die eigene Partnerin könne. Überspitzt gesagt, ist der sogenannte „gläserne Mensch“ heute längst Wirklichkeit geworden – freiwillig! Einzig „gläsern“ müsste man korrekterweise in „glasfasern“ abändern. Auf staatlicher Ebene finden sich hinsichtlich dieser Problematik gesetzliche Regelungen, die das Nichtwissen privilegieren: Datenschutz ist nichts anderes, als die Garantie für den Einzelnen, dass Institutionen nicht alles über jemanden wissen dürfen. Die Privatsphäre ist ein geschützter Raum, in dem neugierige Blicke nichts zu suchen haben.

Nichtwissen kann jedoch auch für weniger gute Entwicklungen verantwortlich gemacht werden: Contergan hieß das Medikament, das Schlafproblemen von Schwangeren entgegenwirken sollte. Von 1957 bis 1961 war das Mittel auf dem Markt und verursachte schwere Beeinträchtigungen bei den ungeborenen Kindern. Der Contergan-Skandal in Deutschland ist ein erschreckendes Beispiel für Nebenwirkungen, die nie auszuschließen sind. Auch umfangreiche Studien können niemals alle potentiellen Variablen in Betracht ziehen, von Tierversuchen ganz zu schweigen, die nicht auf den Menschen übertragbar sind.

Auch Fluorchlorkohlenwasserstoffe (FCKW) wurden zunächst nur als vorteilhafte Errungenschaft wahrgenommen; erst Jahrzehnte später erkannte man, welchen Schaden diese Treibgase in unserer Atmosphäre anrichten. Kurzum: Der technische Fortschritt bringt nicht nur Erleichterungen mit sich, je komplexer eine Technik ist, umso mehr Risiken müssen mitunter auch in Kauf genommen werden. Atomkraft bzw. Atommüll beispielsweise wird uns noch eine „Ewigkeit“ beschäftigen, um nicht zu sagen bedrohen.

Die Liste ließe sich wohl noch lange fortsetzen, auch der Klimawandel und das Insektensterben können hierbei genannt werden. Skeptiker führen in diesen Zusammenhängen öfters an, dass z.B. der Klimawandel / das Insektensterben nicht eindeutig nachweisbar seien und operieren somit mit Nichtwissen als Argument („argumentum ad ignorantiam„) für das (unerträgliche) Nichtstun – ein logischer Fehlschluss! Die eigene Ignoranz als fadenscheinige (und vor allem bequeme) Begründung dürfen wir nicht akzeptieren, wenn uns die Umwelt nicht gleichgültig ist. Dazu müssen wir nur ein kleines Gedankenexperiment anstellen: Wenn die Klimaforscher recht haben, ist es nur folgerichtig, wenn wir entsprechende Konsequenzen ziehen und unser Verhalten ändern, wenn sie Unrecht haben, ist es zwar vergebliche Mühe, aber nichts Schädliches. Übrigens: Laut IPCC (Intergovernmental Panel on Climate Change – der sog. „Weltklimarat“) ist es zu 95 – 100 % wahrscheinlich, dass der Mensch den rasenden Klimawandel verursacht.

Die Facetten und Dimensionen von Nichtwissen sind vielfältig und werden seit einigen Jahren erforscht: Sowohl als gewinnbringende Ressource als auch Gefahr kann Ignoranz beobachtet werden. Es ist richtig und wichtig, dass wir die Aufmerksamkeit auf das Nichtwissen lenken und längst überfällig.

Nichtwissen sei nicht als das Gegenteil von Wissen aufzufassen, als ein Fehlen von Wissen, sondern beide Phänomene seien Teil eines Kontinuums (vgl. Stehr, Nico/Adolf, Marian, Ist Wissen Macht? Erkenntnisse über Wissen, 1. Aufl., Weilerswist 2015. S. 80). Weniger ein Besitztum, mehr ein Handeln sei Nichtwissen; in der Wissenschaft ist das Eingeständnis des Unwissens oft der Beginn einer Untersuchung und somit erkenntnisleitend. „Ich weiß, dass ich nichts weiß“, lautet oft das berühmte angebliche Diktum des Sokrates, das eigentlich lauten müsste „Ich weiß, dass ich nicht weiß“ und tatsächlich in ersterem Wortlaut nicht in den überlieferten Schriften zu finden ist. In wenigen Worten ging es Sokrates darum, die Einsicht in die Grenzen des eigenen Wissens zu befördern.

Nur wer erkennt, dass das eigene Wissen begrenzt ist und stets skeptisch bleibt, strebt (idealerweise) weiter nach Erkenntnis, nur Dumme glauben alles und alles zu wissen. Und Glauben ist nicht Wissen.

 

Literaturtipps:

Bailey, Alison, Strategic Ignorance, in: S. Sullivan/N. Tuana (Hrsg.), Race and Epistemologies of Ignorance, Albany/NY 2007.

Detten, Roderich von/Faber, Fenn/Bemmann, Martin (Hgg.), Unberechenbare Umwelt. Zum Umgang mit Unsicherheit und Nicht-Wissen, Wiesbaden 2013.

Gross, Matthias/McGoey, Linsey (Hgg.), Routledge International Handbook of Ignorance Studies (Routledge International Handbooks Series), London 2015.

High, Casey/Kelly, Ann H./Mair, Jonathan (Hgg.), The anthropology of ignorance. An ethnographic approach (Culture, mind, and society), 1. Aufl., New York NY 2012.

McGoey, Linsey, „Vom Nutzen und Nachteil strategischen Nichtwissens“, in: Peter Wehling (Hg.), Vom Nutzen des Nichtwissens. Sozial- und kulturwissenschaftliche Perspektiven, Bielefeld 2015, 53–74.

Mills, Charles W., White Ignorance, in: Proctor/Schiebinger (Hrsg.), Agnotology, The Making and Unmaking of Ignorance, Stanford 2008, S. 230 – 249.

Oreskes, Naomi/Conway, Erik M., Merchants of doubt. How a handful of scientists obscured the truth on issues from tobacco smoke to global warming, 1. Aufl., New York/Berlin/London 2010.

Soentgen, Jens: Argumentieren mit Nichtwissen, in: Wehling/Böschen (Hrsg.), Nichtwissenskulturen und Nichtwissensdiskurse. Über den Umgang mit Nichtwissen in Wissenschaften und Öffentlichkeit, Baden-Baden 2015, S. 123 – 160.

Twellmann, Marcus (Hg.), Nichtwissen als Ressource, 1. Aufl., Baden-Baden 2014.

Wehling, Peter, Im Schatten des Wissens? Perspektiven der Soziologie des Nichtwissens, Konstanz 2006.

Wehling, Peter: Soziale Praktiken des Nichtwissens, APuZ 18 – 20/2013, Online verfügbar: http://www.bpb.de/apuz/158664/soziale-praktiken-des-nichtwissens .

2 Gedanken zu “Nichtwissen ist Macht

  1. Hallo Tanja, das hast du gut beschrieben.
    Trotz Lehrprofession halte auch ich Nichtwissen für viel bedeutsamer als Wissen, Ich würde deine Ausführungen noch ergänzen in Richtung des Philosophien von Henry D Thoreau, der dem Nichtwissen auch noch eine spirituelle Bedeutung zuweist und es als einzig wahre Basis für Kreativität, Weisheit und als Bezug zur Lebensquelle sieht.
    Meine persönliche Ergänzung: Selbst wenn man alles wissen könne/solle, könnte morgen das Wissen längst überholt sein. Es lohnt sich also nicht wirklich der Versuch, viel „wissen“ zu wollen.

    • Hallo Fred, danke für den Kommentar! Wenn auch etwas spät…:D
      Kannst Du mir sagen, wo Thoreau sich dazu geäußert hat? Würde mich interessieren.
      Überraschend, die Schlussfolgerung. Ich persönlich versuche trotzdem immer einiges zu lernen, auch wenn es veralten kann. Pragmatisch gesehen oder besser gesagt im Alltag kommt es ja oft auch nicht so auf die neuesten Erkenntnisse an. Da genügen dann oft schon veraltete Wissensstände. In anderen Kontexten ist das natürlich nicht so.

Hinterlasse einen Kommentar